Gesundheitsberufe am Ende oder neue Startlöcher?

Gesundheitsfachleute mit Bachelorabschluss können immer mehr und übernehmen immer mehr Verantwortung in der komplexer werdenden Versorgung. Ihr Status bleibt aber gleich: schlecht bezahlt und mit wenig autonomem Handlungsspielraum ausgestattet. Dieser wird durch den Fachkräftemangel, die Ökonomisierung und Digitalisierung im Gesundheitswesen zusätzlich bedrängt. Was tragen die Gesundheitsberufe selbst zu dieser Situation bei? Wie können sie diesen Perspektiven begegnen und was ist die Verantwortung der Fachhochschulen?

Lesen Sie Analyse, Fragen und Antworten dazu im Artikel «Das Ende der Gesundheitsberufe im industrialisierten Gesundheitswesen?» von Beat Sottas.

Das Ende der Gesundheitsberufe im industrialisierten Gesundheitswesen? 

Beat Sottas 

Evidenzbasiertes Arbeiten und lebenslanges Lernen ist in den Gesundheitsberufen selbstverständlich, um die Fachkompetenz stetig zu erweitern, Verantwortung zu übernehmen und um Patient*innen wirksamer zu betreuen. Viele Vertreter*innen aus den Gesundheitsberufen stellen allerdings frustriert fest, dass das Können, das Berufsethos und die Mehrwerte für die Gesellschaft zu wenig Anerkennung finden. 

In der Schweiz ist – anders als in Deutschland – die Akademisierung und Integration in die Arbeitswelt in den letzten 15 Jahren in vielerlei Hinsicht ziemlich unaufgeregt und erfolgreich verlaufen ist. Allerdings darf nicht übersehen werden, dass auf globaler Ebene Prozesse laufen, die – hart auf den Punkt gebracht – viele Gesundheitsfachpersonen und insbesondere die Berufe überflüssig machen. Im Beitrag wird argumentiert, dass zwar das zunehmende Können begehrt bleibt, dass aber das industrialisierte Gesundheitswesen letztlich keine Professionen braucht. Was zählt, ist der passende Funktionszuschnitt in einer arbeitsteiligen Produktions- und Wertschöpfungskette. Oder kurz: es braucht das Profil, aber nicht die Profession. Potenziale zur Mitgestaltung gibt es bei der Umsetzung der kommenden Digitalisierung. 

Gesundheitsberufe – Professionalisierung ohne Happy End 

Wie in anderen Gesundheitsberufen drehen sich im deutschen Sprachraum viele Diskussionen um Fragen der Professionalisierung. Damit wird auch der Wunsch nach Emanzipation verbunden – das Wegkommen von „Hilfsberufen“ scheint durch die steigende Kompetenz beim evidenzbasierten clinical reasoning hinreichend gerechtfertigt. Es ist deshalb für hochqualifizierte und spezialisierte Fachpersonen nicht einsehbar, weshalb sie untergeordnet auf ärztliche Weisung arbeiten sollen. 

Zum Einfordern einer Anerkennung als Profession kann der Blick in die Geschichte klärend sein. Der Begriff Profession bezieht sich nämlich auf „liberale (Männer-)Berufe“ des 19. Jahrhunderts: Anwälte, Architekten, Notare, Kaufleute, Ingenieure, Ärzte, Veterinäre. In Verbänden mit Zugangsbeschränkung wurden Voraussetzungen, Rechte und Pflichten in „Standesregeln“ gefasst. Diese Selbstregulierung hatten mehrere Funktionen: sie legte für die Mitglieder die Prinzipien guter Praxis verbindlich fest und formte eine Berufsidentität, und sie trug zur Wahrung der wirtschaftlichen Interessen bei. Dadurch stiegen das Ansehen und die Honorare. 

Die aktuellen Rahmenbedingungen erlauben eine solche soziologische Festigung einer Profession nicht mehr. Selbst wenn sich alle Berufsverbände ähnlich der FMH zu einem einzigen nationalen Dachverband zusammenschließen würden, könnten sie ihren Handlungsspielraum nicht erweitern und ihre wirtschaftlichen Interessen nicht durchsetzen, weil das Feld ringsherum durch Gesetze und Verordnungen verregelt und verriegelt ist. Dabei kommt in der schweizerischen Rechtsetzung den mitbetroffenen Verbänden in der Vernehmlassung eine Schlüsselrolle zu – für das Bestehende gibt es Besitzstandswahrung und die Etablierten haben kein Interesse am Erstarken weiterer Berufsgruppen. Die jahrelangen Querelen um die Pflege-Initiative und ihre Vorläufer zeigen dies eindrücklich. Über alles gesehen kann deshalb trotz steigender Akzeptanz und Integration in die Gesundheitswirtschaft nicht davon gesprochen werden, dass die fortschreitende Qualifizierung der Gesundheitsberufe diese zu Professionen im sozio-professionellen Sinn werden lässt. Professionalisierung und Professionalität können sich daher nur auf die Fachlichkeit und Expertise beziehen, nicht auf den Status. Dennoch wird der Anspruch, eine Profession zu werden, im Zusammenhang v.a. in Deutschland mit der Akademi-sierung intensiv diskutiert und eingefordert (u.a. Pundt et al. 2006; Walkenhorst 2011; Robert Bosch Stiftung 2013; Kaufhold et al. 2014; Pundt und Kälble 2015; Weyland und Reiber 2017, Höppner und Richter 2018). 

Mehrwerte und Bedarfe sprechen für Bachelors 

Verbreitet ist die Meinung, die Absolvent*innen nach Hochschulabschlüssen vom Patienten weggehen und in Leitungsaufgaben, in den Bildungsbereich oder in die Forschung wechseln. In Deutschland hat die VAMOS-Studie in NRW alle Absolvent*innen der akademisierten Gesundheits-Studiengänge an den Fachhochschulen des grössten Bundeslandes und auch die Arbeitgeber befragt. Dabei wurde deutlich belegt, dass Hochschulabsolvierende die mehrfach verlängerte „Modellklausel“ nicht verdienen, weil sie effektiv Kompetenzen erwerben, um fach- und sachgerecht mit chronischen, komplexen und instabilen Krankheitsverläufen sowie Multimorbidität umzugehen. Zudem eignen sie sich für Versorgungsaufgaben an den kritischen Schnittstellen über Professions- und Systemgrenzen hinweg. Sie sind in der Lage, Aufgaben insb. im Bereich Beratung, interprofessionelle Zusammenarbeit, Projektarbeit, Recherche, Konzeptentwicklung und Expertentätigkeiten zu übernehmen, die über das hinausgehen, was andere Fachpersonen im Betrieb können. Auch die Arbeitsgeber*innen erkennen in der Praxis klare Mehrwerte der Akademisierung. Die an der Hochschule erworbenen und gestärkten Kompetenzen führen damit zu einer Leistungsfähigkeit, die sich zumeist positiv abhebt von den an Berufsschulen ausgebildeten Kolleg*innen (Dieterich et al. 2019: XIII; 185ff.) – allerdings sind diese in Deutschland auf SekII-Stufe angesiedelt. 

Die Fachpersonen müssen sich in der Praxis auf weitreichende Veränderungen und deutlich gestiegene Anforderungen einstellen: eine alternde Gesellschaft, chronisch-degenerative Erkrankungen in allen Generationen, Reha ohne Wiederherstellungsaussicht, neue Interventionstechniken, Digitalisierung, die Erwartungen und Forderungen mündiger Bürger, Nutzen-, Outcome- und Wirtschaftlichkeitsmessungen, Anbieterwettbewerb etc. In der Schweiz nehmen die Berufsbildung und die Rahmenlehrpläne dies kaum auf, und auch die neu formulierten Abschlusskompetenzen der FH-Berufe wirken zu statisch. Sie nehmen primär die Fachlichkeit und die Qualität der therapeutischen Beziehung in den Blick, aber nicht die Entwicklungsdynamik und die zur Disruption neigenden Rahmenbedingen des Gesundheitssystems. 

Weltweit wird die Anhebung auf hochschulische Ausbildung mit erweiterten Kompetenzen als eine der notwendigen Maßnahmen zur Bewältigung dieser Herausforderungen und der steigenden Komplexität gesehen – wie vor hundert Jahren in der Medizin. So gesehen war nach der Jahrtausendwende der Schritt in die Akademisierung der Gesundheitsberufe eine richtige strategische Massnahme für die Steigerung der Versorgungsqualität in der Schweiz. 

Die Industrialisierung der Gesundheitsversorgung schwächt die Berufe 

Im Gesundheitssektor ist der Personalmangel seit langem ein Problem. Während Jahrzehnten haben sich Personallücken nach dem „System Durchlauferhitzer“ immer wieder füllen lassen, weil Frischdiplomierte nachrückten. Das funktioniert nun aus verschiedenen Gründen nicht mehr. Weil… 

 die Baby-Boomer-Jahrgänge in Rente gehen, gibt es eine Pensionierungswelle; 

 die „Pillenknick“-Generation weniger Kinder und Enkel haben, nimmt die Zahl der Schulabgänger ab – die Pensionierungen können mengenmäßig gar nicht kompensiert werden; 

 die Feminisierung des Gesundheitswesens mehr Teilzeitarbeit mit sich bringt und die Workforce dadurch abnimmt; 

 die Gesundheitsversorgung stark ausdifferenziert ist, wächst der Personalbedarf doppelt so stark wie in den anderen Wirtschaftszweigen: pro Patient sind oft 20 Personen in präventive, beratende, edukative, diagnostische, therapeutische, pflegerische, rehabilitative und palliative Leistungen involviert, unterstützt durch technischen und logistischen Support, betriebswirtschaftliche und organisatorische Funktionen, aber auch durch Qualitätssicherung und Outcome-Evaluation; 

 Professionals über ihren Job und die Verhältnisse klagen, setzt eine Negativspirale mit Attraktivitätsverlust und Reputationsschaden ein. Diplomierte, die schon gar nicht erst in den Beruf einsteigen wollen, und eine kurze Berufsverweildauer sind Folgen davon. 

Diese Gemengelage führt dazu, dass sowohl ältere als auch jüngere Arbeitskräfte zunehmend knapp werden. Fehlende Arbeitskräfte sind für die Gesundheitswirtschaft ein Risiko, aber auch eine Chance. Im Folgenden wird dargelegt, was aktuell abläuft und wie das die Gesundheitsberufe schwächt. 

Wenn in der Boombranche Gesundheit die Betriebe mit viel weniger Personal auskommen müssen, gibt es zwangsläufig einen Um- und Rückbau von Strukturen und Prozessen mit weitreichenden Verwerfungen und Transformationen. Das Management, das den Betrieb sicherstellen muss, hat keine andere Wahl, als Mittel zur Substitution von Personal und zur Effizienzsteigerung zu entwickeln. Der hohe Druck führt zu „disruptiven Innovationen“, also Ansätzen, die konventionelle Wege verlassen und grundsätzlich Neues probieren. Zum einen lassen sich Verfahren aus der Industrie übertragen, zum anderen verspricht die Digitalisierung Lösungen. 

Im Beitrag „Industrialisierung der Medizin?“ zeichnete Kühn (1998) nach, wie in den USA in den 1990er-Jahren die Medizin zum Kommerz geworden ist. Ähnlich wie bei McDonalds wurden Abläufe, Produkte und Dienstleistungen, aber auch Einkauf und Marketing vereinheitlicht und dann in identisch konzipierten Einrichtungen im ganzen Land ausgerollt. Das Management, das nicht aus dem Gesundheitssektor stammte, konnte durch Ressourcenzuteilung, gezielte Anreize und spezifische Hürden bestimmte Prozess- und Zeitvorgaben, Behandlungsrichtlinien oder kosteneffektive Interventionsoptionen durchsetzen und durch eine solche Industrialisierung hohe Renditen erzielen. Im deutschen Sprachraum läuft ein ähnlicher Prozess. Und wegen der Versorgungspflicht können sich die Manager der Gesundheitswirtschaft erst noch als Garanten eines funktionierenden Gesundheitssystems positionieren. 

Digitalisierung als Wundermittel 

Ein weiterer Bruch entsteht durch digitale Transformation – im Gesundheitswesen verspricht sie Lösungen für viele Probleme: Personalmangel, ungenügende Effizienz, Redundanzen, verstreute Daten, Kosten – aber auch für positiv konnotierte Anliegen wie Teilhabe, Transparenz, Mitgestaltung, Patientensicherheit, Nutzerfreundlichkeit etc. Aus gesundheitswirtschaftlicher Sicht ermöglicht Digitalisierung in erster Linie ein Re-Engineering der Wertschöpfungskette. Wenn Personal knapp und eh rund 70 % der Kosten Personalaufwände sind, liegt der Griff zu Substitutionslösungen nahe – Cure und Care immer mehr nach der Logik industrieller Produktionsprozesse organisiert. 

Klar ist heute, dass alle Tätigkeiten, die sich in einem Prozess beschreiben und in Ablaufschritten formalisieren lassen von der Digitalisierung erfasst werden können. Die digitale Transformation kann also Hand- und Kopfarbeit im Gesundheitswesen ersetzen. Die Entwicklung wird als dreistufiger Prozess gesehen. 

 In einer ersten Phase geht es um Ergänzung der Sinne und Erweiterung der menschlichen Intelligenz durch Assistenzsysteme, die uns das Leben und die Arbeit erleichtern – das kennen wir vom Autofahren, von Staubsaugern oder Rasenmähern, von Fehlermeldungen oder von ausgeklügelter Sensorik und Logistik im Klinikalltag. 

 Die zweite Stufe besteht aus intelligenter Automatisierung. Bei diesem machine learning können Computer bestimmte Muster interpretieren und Abläufe selbst optimieren, z. B. bei Schachpartien, Aktienkursen oder Finanzdaten, Fahrplanauskünften, Dokumentenanalysen, Übersetzungen, Laborwerten, Evidenzvergleichen, oder auch bei Gesichtserkennung und Routineoperationen etc. Im Arbeitsalltag von Gesundheitsfachpersonen werden hier die größten Veränderungen eintreten. Dabei kommt es zu einem für Fachpersonen schmerzhaften Übergang von evidenzbasierten (aber individuell gestaltbaren) Therapien zu algorithmusbasierten Therapien – die sich selbst optimierende „allwissende“ Maschine überprüft und korrigiert ggf. das, was Menschen machen. 

 Die dritte Stufe wird oft als adaptive Intelligenz beschrieben. Dabei eignen sich Maschinen autonom Fähigkeiten an, um komplexe Aufgaben selbstständig zu lösen und Denkräume weiterzuentwickeln.

Auffallend an der Debatte über die digitale Transformation im Gesundheitswesen ist, dass die Risiken seltener thematisiert werden als die Chancen und Opportunitäten. Künstliche Intelligenz wird meist als ökonomische Notwendigkeit oder als technologischer Vorteil dargestellt. Einerseits wird ins Feld geführt, dass neue Anwendungen, neue Geräte, neue IT-Applikationen, neue Algorithmen etc. die Produktions- und Personalkosten senken, Daten wirkungsvoller verknüpfen sowie Sicherheit und Nutzen verbessern. Anderseits wird als Chance verkündet, dass Health-Professionals dann wieder mehr Zeit haben werden für die Patienten. 

Deprofessionalisierung statt mehr Zeit für Patient*innen 

In ihrem Buch The Future of Professions haben Susskind & Susskind (2015) dargestellt, wie zwiespältig die digitale Transformation ist. Einerseits schafft sie uns viele Annehmlichkeiten und Vereinfachungen und macht uns leistungsfähiger, was maßgeblich zu ihrer Akzeptanz beiträgt. Die Kehrseite davon ist, dass dieser Gewöhnungsprozess mit einem langsamen Ersetzen von Fachpersonen durch intelligente Maschinen in einen radikalen Umbau unserer Lebenswelt mündet, bei dem wir viele Rollen, Abläufe und Arbeitsstile des 20. Jahrhunderts gar nicht mehr brauchen oder wollen. 

Viele Fachpersonen im Gesundheitswesen erleben den digitalen Wandel mehr oder weniger passiv als Gefahr für die therapeutische Beziehung und die Versorgungsqualität. Sie sehen, dass neue Vorgaben zur Ablaufgestaltung, Dokumentation, Qualitätssicherung oder Abrechnung den Alltag umorganisieren und die Aufmerksamkeit von der Kernaufgabe weglenken – kostbare Therapiezeit geht zugunsten von Hilfsarbeiten für das Management verloren. Mehr und mehr ist es nicht immer der Mensch, der frei entscheidet. Immer öfter ist es ein wenig greifbares Zusammenwirken von Menschen und intelligenten Systemen, welches in der arbeitsteiligen Produktions- und Wertschöpfungskette unser Handeln bestimmt und z. B. Aufgaben individuell nach Eignung und erwartetem Mehrwert zuschneidet – oder auch ineffiziente oder ineffektive Professionals aussortiert. 

Die gefühlte Ohnmacht ruft bei vielen Gesundheitsfachpersonen nach Widerspruch. Tief verankert ist die Vorstellung, dass die Versorgung von (kranken) Menschen nicht substituierbar ist, weil dies Empathie, Beziehungsarbeit, Dialog und Reflexion erfordert. Zwar kann die Digitalisierung vieles ersetzen – aber sie wird nicht das Zuhören, Fragenstellen, Abwägen, Beraten und Entscheiden in Ungewissheit abnehmen. Das Kreative und das Soziale bleiben daher noch lange menschliche Fähigkeiten. Dennoch: Die fortschreitende Industrialisierung und Digitalisierung erfüllt durch Effizienzsteigerung primär die Erwartungen der Gesundheitswirtschaft. Für die Erwartungen der Fachpersonen nach mehr Autonomie und Selbstbestimmung bleibt sehr wenig Spielraum. Manager können die im Selbstverständnis der Gesundheitsfachpersonen tief verankerte Selbstbestimmung zumeist ignorieren. Gerne verweisen sie dafür auf den Zeitgewinn für die bessere Betreuung der Patienten. Dieses Versprechen könnte sich allerdings als Scheinargument und Köder erweisen. Es wäre naiv zu glauben, dass sich in gestrafften Prozessen Komfortzonen und Polster mit Zeitreserven etablieren können. Die Arbeitgeber und Prozessverantwortlichen werden genau hinschauen, wofür die teuren Menschen eingesetzt werden. Wenn dereinst Maschinen alles Repetitive übernehmen, Algorithmen unsere Entscheidungen sowie die Qualität unserer Leistungen prüfen und uns menschenförmige Roboter umgeben (oder sich um uns kümmern), gibt es freie Valenzen bei den Fachpersonen – deren Zeit kann dann für personalisierte Versorgung und individuelle Zuwendung hinzugekauft werden. 

Profession: wozu denn auch? 

Die gute Ausbildung und das Berufsethos der Gesundheitsfachpersonen führen dazu, dass das Reservoir an qualifizierten Arbeitskräften vergrößert wird. Dennoch entstehen Parallelwelten, weil die strukturelle Personalknappheit eine Asymmetrie schafft, welche die Gesundheitswirtschaft stärkt und die Gesundheitsberufe schwächt. 

Die unvollendete Professionalisierung schafft für die Gesundheitsberufe eine doppelte Hypothek: in der gesundheitspolitischen Arena gelingt es nicht, einen maßgeblichen Statusgewinn gegenüber der Medizin zu realisieren. Auf dem gesundheitswirtschaftlichen Parkett führt die „strukturelle Minderwertigkeit“ zu ungenügender Gestaltungsmacht. Die Professionals werden zwar individuell geschätzt für ihre Kompetenz, aber als Profession sind sie entbehrlich wie andere Berufe auch. Dies führt zu grundsätzlichen Fragen: Braucht es in dieser industrialisierten Routineversorgung, die nur noch spezialisiertes Knowhow für bestimmte Funktionen benötigt, noch Professionen mit starren Berufsbildern und mehrjährigen Ausbildungen? 

Weichenstellungen für die Mitgestaltung der digitalen Transformation 

Aus der pessimistischen Perspektive lassen sich weitere notwendige Reformschritte ableiten. Diese umfassen deutlich mehr als aktivistisches Kümmern um Fachkompetenz und professionellen Status – sie setzen beim realisierten Zugewinn an Kompetenz an und erweitern diese auf der Ebene des Gesundheitssystems, um dieses aus einer Position der Angebotsmacht mitzugestalten. 

Weil die Industrialisierung läuft und sich aus den genannten Gründen nicht aufhalten lässt, muss das Interesse der Digitalisierung gelten. Da öffnen sich aktuell Opportunitätsfenster, in denen die Asymmetrien verringert und die Parallelwelten angenähert werden können. Weil das Gesundheitswesen abhängig von qualitativ hochqualifizierten Fachpersonen ist, kann der Übergang von evidenzbasierten Therapien zu algorithmusbasierten Therapien mitgestaltet werden – vorausgesetzt die Fachpersonen sind auch fähig, mit der Gesundheitswirtschaft einen Dialog auf Augenhöhe zu führen. Mit robusten Daten müssen die komparativen Kosten und der Nutzen konventioneller und digitalisierter Methoden darlegt werden. Für die Fachhochschulen bedeutet dies aber auch, dass der Fokus von der aktuell dominierenden Professions(rollen)forschung Richtung Versorgungsforschung, Evaluation und Organisationsentwicklung gelenkt wird. 

Literatur 

Dieterich, S. u. a. (Hrsg.): Verbleibstudie der Absolventinnen und Absolventen der Modellstudiengänge in Nordrhein-Westfalen (VAMOS) – Abschlussbericht. Bochum 2019. 

Höppner, H./Richter, R. (Hrsg.): Theorie und Modelle der Physiotherapie. Hogrefe. Bern 2018. 

Höppner, H., Sottas B. Entwicklung von Berufen im Gesundheitswesen: Bildungsinvestitionen im Spannungsfeld von Innovation und Tradition. In: Amelung, V. et al. (Hrsg.). Die Zukunft der Arbeit in der Gesundheitsversorgung: 249-262. Berlin 2020. 

Kaufhold, M./Knigge-Demal, B./Makowsky, K. (Hrsg.): Akademisierung und Professionalisierung in den Gesundheitsberufen: Einblicke in die Diskussion. INBVG FH Bielefeld. Bielefeld 2014. 

Kühn, H.: Industrialisierung der Medizin? Zum politischökonomischen Kontext der Standardisierungstendenzen. In: Jahrbuch für Kritische Medizin und Gesundheitswissenschaften, Bd. 29 – Standardisierungen in der Medizin. S. 34–52. Hamburg 1998. 

Pundt, J./Kälble, K.: Gesundheitsberufe und gesundheitsberufliche Bildungskonzepte. Apollon University Press. Bremen 2015. 

Pundt, J. u. a.: Professionalisierung im Gesundheitswesen: Positionen – Potenziale – Perspektiven. Apollon. Bremen 2006. 

Robert Bosch Stiftung (Hrsg.): Gesundheitsberufe neu denken, Gesundheitsberufe neu regeln. Stuttgart 2013. 

Sottas, B. Blindflug in die eHealth-Welt? Bildungsdefizite machen Professionalisierungsbemühungen der Gesundheitsberufe zunichte. In: International Journal of Health Professions IJHP, Vol. 3, Issue 1: 8-15 2019 http://www.degruyter.com/view/j/ijhp.2016.3.issue-1/ijhp-2016-0002/ijhp-2016-0002.xml?format=INT 

Susskind, R./Susskind D: The Future of the Professions. How Technology will transform the Work of Human Experts. Oxford University Press. Oxford 2015. 

Walkenhorst, U. Akademisierung der therapeutischen Gesundheitsfachberufe – Chancen und Herausforderungen für Berufe im Übergang. bwp@Spezial 5:1–12. Online: https://www.bwpat.de/content/ht2011/index.html. Hamburg 2011. 

Weyland, U./Reiber, K (Hrsg.): Entwicklungen und Perspektiven in den Gesundheitsberufen – aktuelle Handlungs- und Forschungsfelder. Bertelsmann. Bielefeld 2017. 6 

Der vorliegende Beitrag basiert auf einem Beitrag im Sammelband von Höppner H, Kühnast P, Winkelmann C (Hg.). 2020. „Potentiale der Physiotherapie erkennen und nutzen – Von der Kompetenz zur Performanz in der Gesundheitsversorgung“. Heidelberg: medhochzwei Verlag. S. 71-78 

Kontakt: Dr. Beat Sottas, sottas formative works, Versorgungsforschung & Bildung, 1722 Bourguillon Tel. +41 79 285 91 77 sottas@formative-works.ch www.formative-works.ch